Dieser Beitrag ist ein Gastbeitrag von Lina von alltagsnavi.de
Jedes Jahr dasselbe Ritual: Ich kaufe mir ein wunderschönes Journal. Das perfekte Papier, vielleicht sogar mit Goldschnitt. Ich sehe mich schon morgens reflektierend am Fenster sitzen, Tee dampft, Gedanken fließen, mein Leben wird klar und strukturiert. Tja. Spätestens in Woche drei werde ich von der schieren Leere der nächsten Seite angeschwiegen. Das Journal verschwindet dann langsam im Stapel unerledigter Dinge, bis ich beim Frühjahrsputz ein schlechtes Gewissen und einen fast leeren Kalender finde.
Es hat Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass es nicht am Journal lag. Auch nicht daran, dass ich es nicht konnte. Sondern daran, dass ich versuchte, etwas zu erzwingen, das nicht zu meinem neurodivergenten Gehirn passte: nämlich Regelmäßigkeit, Perfektion und der Glaubenssatz „Schreib jeden Tag, sonst bringt’s nichts“.
Was ADHS mit meinem Journaling gemacht hat (oder auch nicht)
Für alle, die keine ADHS-Diagnose haben, eine kleine Einordnung. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Was aber viel zu harmlos klingt für das, was da im Kopf wirklich passiert. Für mich bedeutet ADHS ein Gedankenkarussell, das nie stillsteht. Gefühlschaos, das sich plötzlich Bahn bricht. Reizoffenheit deluxe. Und ein Gedächtnis, das Erfolge genauso schnell vergisst wie Geburtstage.
Diese Mischung sorgt dafür, dass ich ohne bewusste Reflexion oft nur die Dinge wahrnehme, die nicht geklappt haben. Ich merke selten, wenn es mir gut geht. Und ich vergesse erstaunlich oft, dass ich auch Fortschritte mache. Journaling ist für mich inzwischen so eine Art mentaler Screenshot geworden: „Guck mal, das war heute. Und das war gar nicht so übel.“
Die schönen Journals waren nicht das Problem
Ich dachte lange, mein Problem sei mangelnde Disziplin. Ich habe mir selbst eingeredet: „Wenn du das nicht durchziehst, bringt es nichts.“ Ich wollte perfekte Seiten, mit Farben, Dankbarkeit und Highlights. Und zwar jeden Tag. Auf Social Media bekommen die anderen das schließlich auch hin.
Aber dann kam der Moment, in dem ich das Journal aus dem Vorjahr wiederfand. Fast leer. Aber dazwischen? Waren ein paar Seiten, auf denen ich ganz ehrlich geschrieben hatte, wie ich mich gefühlt habe. Und diese wenigen Seiten waren unglaublich wertvoll. Nicht, weil sie schön waren. Sondern weil sie echt waren. Ich konnte mich erinnern. Und ich konnte sehen, wie weit ich gekommen war. Da hat es Klick gemacht.
Der Wendepunkt: Frieden mit der halbleeren Seite
Ich habe gelernt, dass meine Seiten nicht voll sein müssen, um sinnvoll zu sein. Dass auch ein halber Satz reicht. Dass „Heute war ein anstrengender Tag, aber ich habe es geschafft, Wäsche zu machen“ ein großer Sieg sein kann.
Ich habe angefangen, mich vom Anspruch zu lösen, etwas „richtig“ zu machen. Journaling ist kein Schulaufsatz. Es gibt keine Note. Es gibt nur mich. Und was ich gerade brauche.
Was mir heute hilft: Journaling für neurodivergente Köpfe
Inzwischen nutze ich Journaling als kleinen Anker. Nicht jeden Tag. Nicht perfekt. Aber oft genug, um einen Unterschied zu machen.
Hier ein paar Dinge, die sich für mich bewährt haben:
1. Morgenfragen für einen sanften Start
Ich bin kein Fan von starren Morgenroutinen. Aber ein, zwei kleine Fragen helfen mir, den Tag nicht gleich mit Chaos zu beginnen. Zum Beispiel:
- Habe icht etwas geträumt?
- Worauf freue ich mich heute?
- Für welche drei Dinge bin ich gerade dankbar? (Häufig kleine Dinge wie, ein warmes Bett oder auch, dass die Erkältungswelle im Jo an mir vorbeigegangen ist.)
2. Abendreflexion zum Runterkommen
Abends reflektiere ich kurz, wenn ich dran denke. Und wenn nicht, ist das auch okay. Meine liebsten Fragen:
- In einem Wort: Wie war mein Tag?
- Was habe ich für mein Wohlbefinden getan?
- Worauf bin ich stolz, auch wenn es klein ist?
3. Keine Angst vor der Pause
Ich lasse Seiten leer. Manchmal für Wochen. Und genau das ist inzwischen Teil meines Systems. Denn diese Lücken erinnern mich daran: Ich bin kein Roboter. Und ich muss keine neurotypischen Maßstäbe an mich anlegen (neurotypisch sind Menschen, die nicht bspw. ADHS oder Autismus haben).
4. Kleine Einheiten statt großer Ansprüche
Ich schreibe manchmal nur ein Wort. Oder einen Smiley. Oder klebe eine Eintrittskarte ein, die mich an ein schönes Erlebnis erinnert. Journaling muss nicht lang sein. Es muss meins sein.
Alles darf, nichts muss
Ich habe aufgehört, mich zu zwingen. Wenn ich schreibe, dann weil ich das Bedürfnis danach habe. Nicht, weil ich muss. Und manchmal überrascht mich das Journal selbst: Es wird zu einem Ort, an dem ich Klarheit finde, wenn mein Kopf mal wieder ein Dschungel ist.
Journaling heute: Ein kleiner Anker im Alltag
Ich würde nicht sagen, dass Journaling mein Leben komplett verändert hat. Aber es hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen. Meine Muster zu erkennen. Mich an gute Tage zu erinnern und mir selbst freundlicher zu begegnen.
Gerade bei ADHS (und auch bei autistischen Anteilen) kann Journaling ein wertvolles Werkzeug sein, um den eigenen Alltag bewusster wahrzunehmen. Aber eben nur, wenn es zu deinem Gehirn passt. Und nicht, wenn es dich zusätzlich stresst.
Wenn du gerade an dem Punkt bist, an dem du eigentlich journaling-müde bist, aber merkst, dass du doch einen Einstieg brauchst, dann habe ich was für dich.
Deine sanfte Start-Mission
Ich habe ein kleines Freebie entwickelt, das dir den Einstieg ins Journaling erleichtern kann. Kein Druck, keine perfekten Seiten. Sondern ein liebevoller Impuls, um dich selbst wieder ein bisschen besser zu hören. Es heißt Start-Mission und du findest es hier:
👉 https://alltagsnavi.de/start-mission/
Vielleicht ist das genau der kleine Anstoß, den du heute brauchst, um beispielsweise Jess‘ 7-Tage-Challange zu starten. Und wenn nicht: Dann heb dir die Idee einfach auf für einen anderen Tag.
Halbleere Seiten sind keine Niederlage. Sie sind ein Zeichen, dass du mitten im Leben stehst. Und manchmal reicht genau das.

Über mich
Ich bin Lina, Gründerin von alltagsnavi, einer Plattform für Erwachsene mit ADHS/AuDHS.
Ich kenne das Gefühl, sich selbst im Weg zu stehen, nur zu gut und zeige auf meinem Blog, wie man mit kleinen, machbaren Schritten wieder ins Tun kommt oder auf einfache Weise ein bisschen mehr Entspannung in den eigenen Alltag bringt.